„Sylt“ heißt nun das dritte Album der Hamburger. Kurzer Name. Kein kleines Wortspiel mehr wie bei den beiden Vorgängern. Dennoch nicht weniger interpretationsbedürftig. Denn die Nordseeinsel, dessen Silhouette auf tausenden Autos zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen, zwischen Aachen und Görlitz prangt, ist mehr oder weniger die Antithese zur Seelenlandschaft KETTCARs.
Sylt hat den Ruf, ein Domizil der Reichen und Schönen zu sein. Porsche und Champus, während der Rest der Republik sich zwar nach Sylt sehnt, aber eher ein ernsteres Dasein fristet. „Es ist zwar etwas teurer, dafür ist man unter sich“ sangen schon die ÄRZTE. Doch auch dieses Refugium bröckelt an allen Ecken und Enden; die Nordsee ist dabei, die Insel zu verschlingen. KETTCAR haben mit dieser Welt der oberen 10000 nichts zu tun. Der oberflächliche Smalltalk interessiert sie nicht. Vielmehr beschäftigen sie sich mit den kleinen Freuden und Schmerzen des Alltags.
Allein schon der Bandname, jenes um ein Rad aufgemotztes Dreirad für die einst sorglos lebende bundesrepublikanische Mittelschicht der 1970er und ´80er, klingt eher nach Doppelhaushälfte, Sportschau und Topfschlagen an Kindergeburtstagen als nach Sylt. Doch auch diese Welt ist so nicht mehr existent. Traurig und zutiefst berührt muss man im unausweichlichen Fall des Todes eines Lieben feststellen, dass man kein Kettcar fahrendes Kind mehr ist („Verraten“), dass man in den globalisierten Zeiten nur an seinen Fähigkeiten gemessen wird („Geringfügig, befristet, raus“), dass das Hamsterrad des Lebens sich zwar bewegt, man aber nicht von der Stelle kommt („Würde“) und die Grenzen, an denen man sich im Leben immer orientieren konnte, bis hin zur Unerkenntlichkeit verwischen („Kein Außen mehr“).
KETTCAR zeigen sich erneut als subtile Beobachter der Gegenwartsgesellschaft, dessen Regeln sie nicht gemacht haben, die sie auch hinterfragen, nach denen sie jedoch spielen. Sicherlich würden sie immer wieder gerne von vorn anfangen, doch würden sie nicht wieder genau so handeln? („Graceland“) Wahrscheinlich, vielleicht aber auch nicht. Denn klare Antworten bleiben KETTCAR auch auf „Sylt“ schuldig. Das ist auch nicht ihr Stil, sondern das Kryptische. Schon zu Punkrock-Zeiten von …BUT ALIVE sang Marcus Wiebusch in „Natalie“: „Oh Gott, wie ich das Erklären hasse […]. Weil ich es nicht bin, der der Menschheit was erklären muss. […] Keinen blassen Schimmer, ob ich dich damit erreiche.“
Musikalisch bleiben KETTCAR sie selbst, wenn auch die Grundstimmung dunkler als früher ist. Balladeske Schlagerpoppunk-Musik ohne Vergleichsmöglichkeit. Aber Vorsicht! Lustig tanzbare Popperlen wie „Ausgetrunken“ oder „Deiche“, die ein DJ ohne großes Nachdenken über den lyrischen Inhalt einfach so auflegen könnte, gibt es meiner Meinung nach nicht in dieser Form. Und so fordern die Nordlichter uns zu einem Zwiegespräch über Gott und die Welt auf, an dessen Anfang immer das Zweifeln steht. Nicht mehr zweifeln braucht man daran, dass KETTCAR eine der besten und interessantesten deutschsprachigen Bands überhaupt sind. Wir werden von ihnen nie enttäuscht werden.