Therapy – Troublegum

1994 war ich in der 11. Klasse und von einer Studienfahrt in die boomende Metropole Berlin brachte ich zwei neue CDs mit nach Hause, die heute einen wahren Kultstatus genießen. Zum einen „River runs red“, das depressiv-morbide Debüt von LIFE OF AGONY, zum anderen eben „Troublegum“ von THERAPY? Damit war ich gut und gerne 65 DM los, was ungefähr zwei Drittel meines Taschengeldes betrug, sich jedoch lohnen sollte. Dabei bedenke man, dass das Brennen von CDs und das Downloaden von Songs aus dem Internet im Jahre 1994 unvorstellbare technische Sciencefiction war. Der bewusste Kauf eines Musikträgers stand insofern am Ende einer langen Kette von Überlegungen hinsichtlich einer sinnvollen Investition.
THERAPY? sind auf zweierlei Weisen Ausdruck einer alternativen und unabhängigen Szene, nämlich biographisch und musikalisch. Gegründet wurde die Band 1991 vom Gitarristen und Sänger Andrew James Cairns sowie von Schlagzeuger Fyfe Ewing nach einem Konzertbesuch in Belfast. Später stieß Fyfes Schulfreund Michael Mckeegan als Bassist hinzu.
Nun ist Nordirland nicht gerade das Fleckchen Erde, welches Musiker von Weltformat im Minutentakt gebiert. Dennoch war und ist der kleine von Krisen geschüttelte britische Teil der grünen Insel Ausgangspunkt und Identitätsgrundlage für das Trio, das von den regennassen Straßen mit ihren grauen Reihenhäusern in die Welt auszog und großartige Erfolge feierte, nur um nach leidigen Quälereien mit der Pleite gegangenen Plattenfirma „A&M“ und der verpassten Übergabe an „Mercury“ wieder zu der Band zu werden, die eher in kleinen Clubs als in großen Hallen spielt. Was vielen Bands das Genick gebrochen hätte, die sich zu fein gewesen wären den Weg zurück anzutreten, haben THERAPY? mit Demut ertragen. Sie hatten ohnehin nie große Pläne und seit der Debüt-EP „Babyteeth“ von 1991 geht man die Dinge so an, dass jede Platte auch die letzte sein könnte. Das mag verwundern, macht aber den Kopf frei für allerlei musikalische Experimente – mit dem Resultat, dass kein Album wie das andere klingt: Das erste full-lengh „Nurse“ von 1992 ist ein schizoider Angriff auf die Gehörgänge, der dissonante Instrumentierung mit melodischem Gesang kombiniert. 1995 veröffentlichen THERAPY? mit „Infernal love“ ein hochmelodisches balladeskes Pop-Album, welches die Freude über den Waffenstillstand zwischen der IRA und den Regierungstruppen sowie die Hoffnung auf Frieden in Nordirland zum Ausdruck bringt. „Semi-detached“ von 1998 ist ein waschechtes Rockalbum, was jedoch aufgrund der oben erwähnten Probleme mit A&M kaum beworben und in den USA nicht veröffentlicht wird. Durch diese Vorgänge stark belastet kommt 1999 „Suicide pact, you first“ auf den Markt, eine schwere, dumpfe, verzerrte, depressive Anhäufung von…Müll. Ein Schlag in die Gesichter derjenigen, die THERAPY? nur als massenkompatible Rock-Band kennen und sehen wollten. Und daran ist das kommerziell erfolgreichste Album der Band, das vorliegende „Troublegum“, nicht ganz unschuldig.
Plattenhändler, die gerne in Schubladen denken, haben 1994 Schweißperlen auf der Stirn. Wo soll man die CD denn einordnen? Punk? Klar! Metal? Auf jeden Fall! Independent? Wo denn sonst? Oder im Pop-Bereich? Sicher! Den DJs in jenen Jahren sind diese Probleme schnuppe, denn das Trio wagt den Schritt über die einengenden Stacheldrahtzäune ihrer Heimat und die musikalischen Genregrenzen – somit also den viel zitierten Blick über den eigenen Tellerrand – und sorgt für volle Tanzflächen: Der Metaller bangt zum Stakkato-Riffing, der Punk pogt sich die Nase blutig, die Grunge-Jugend gibt sich nach dem Tod von Kurt Cobain den schwermütigen Passagen hin, der intellektuelle Indie-Hörer schätzt das unrhythmische Ploppen der Snare und der Otto-Normal-Verbraucher singt einen eingängigen Chorus nach dem anderen lautstark mit. Alle sind glücklich. Super!
Was in diesem kollektiven Freudentaumel meist unbeachtet bleibt, ist Andrew J. Cairns´ Seelenchaos, sein gestörtes Verhältnis zur Welt und besonders zu sich selbst. Das deutet das Cover bereits an, der pockennarbige Mensch, der seinen Kopf in die Mülltonne des Lebens steckt. Die CD an sich ist der Deckel zu dieser Mülltonne. Nimmt man sie heraus, erscheint unter dem durchsichtigen Tray der Inhalt: Pillen, Spritzen, Pornoheftchen, blutverschmierte Bandagen, ein Messer und eine tote Ratte! Inbegriff des Ekels. Die Songtexte geben diesem Seelenmüll eine Stimme. Durchgängiges Motiv ist das der Einsamkeit ohne Hoffnung auf Liebe, des (von Gott) Verlassen-Seins, der sexuellen Isolation. Beispiele gefälligst?
My girlfriend says that I need help! My boyfriend says I´ll be better off dead!
(Knives)
With a face like that I won´t break any hearts. Your beauty makes me feel alone.
(Screamager)
I am not afraid to die. I am just scared of going to hell. Want Jesus without the suffering.
(Hellbelly)
The world is fucked and so am I. Maybe it´s the other way round. I can´t seem to deceide.
(Stop it you are killing me)
Heaven kicked you out. You wouldn´t wear a tie.
(Nowhere)
Gimme something to breathe. Give me a reason to live!
(Die Laughing)
Here comes a girl with perfect teeth. I bet she won´t be smiling at me.
(Trigger inside)
Storming Heaven without God. Storming Heaven without love.
(Turn)
Masturbation saved my life.
(Femtex)
I´m in hell and I´m alone. Thought you were my friend. You´re just the same as them. (Brainsaw)
Über eine Dekade später erscheinen THERAPY? gefestigt. Man hat sich mit seiner eigenen Biographie arrangiert, Rückschläge verkraftet, macht immer noch Musik und hat hierfür mit Eagle/Spitfire ein kleines, aber funktionierendes Label gefunden. „High anxiety“, „Never apologise! Never explain!“ und „One cure fits all“ sind versöhnliche Outputs für die geschrumpfte, aber umso treuere Fangemeinde. Und dennoch bleiben Songs wie „Nowhere“, Die laughing“ und das alles überragende „Screamager“ erwarteter Höhepunkt einer jeden Show. Daher keimt auch bei jedem angekündigten Release in den Herzen der Menschen die Hoffnung auf, dass ein neues „Troublegum“ wie ein Messias zurückkehren werde, dass alles wieder so wäre wie damals1994, als eine kleine Band aus Nordirland für kurze Zeit die ganze Welt in Verzückung einte. Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

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